Aktueller hätte das Thema der jüngsten Veranstaltung in der Reihe der Rhein-Wieder Gespräche kaum sein können. Nach dem Angriff der Hamas auf Israel und einen Tag nach seinem Besuch im ARD-Presseclub war der Diplomatische Korrespondent des Berliner „Tagesspiegels“, Dr. Christoph von Marschall, am Montag, den 09.10.2023 zu Gast am Rhein-Wied-Gymnasium mit einem Vortrag zum Thema „Krisen, Kriege, Konkurrenz – Wo steht Deutschland in der neuen Weltordnung?“.
Zu Beginn berichtete der Journalist in einem Einführungsgespräch mit den Moderatorinnen Oona Glawe (MSS 11) und Katharina Holterhoff (MSS 13) unter anderem von seiner Zeit als USA-Korrespondent, während der er bereits früh den damals noch recht unbekannten Senator und späteren US-Präsidenten Barack Obama kennengelernt hatte. Die Zukunftsaussichten junger Menschen seien aktuell düsterer als damals zu Beginn seiner Journalistentätigkeit Anfang der 90er Jahre. Man habe gedacht, Krieg sei nicht mehr führbar in Europa und man hielt den Balkankrieg für Nachwehen, nicht aber als Vorbote neuer Kriege, bis Russland nicht nur die Europäer eines Besseren belehrt habe.
Während seines Vortrags beleuchtete er zunächst die vielen Krisen, die in immer kürzer werdenden Abständen aufeinander folgen. Hierbei treten laut von Marschall Deutschlands Irrtümer immer stärker zu Tage: So habe beispielsweise die Energiewende Deutschland bislang nicht unabhängiger gemacht. Besonders sensibilisierte er die Zuhörer dafür, dass pauschale Aussagen immer kritisch gesehen und infrage gestellt werden sollten: „Am Ende kommt immer eine Verhandlungslösung“, „Konflikte mit Atommächten kann man nicht gewinnen“, „Sicherheit gibt es nicht mit, nur gegen Russland“. Nach einem Blick auf die Global Player USA und China folgte seine Einschätzung auf die Rolle Deutschlands in diesem Gefüge. So seien an China zwar unter anderem die niedrigen Arbeitskosten und der große Markt attraktiv, doch die USA punkteten mit einer hohen Kaufkraft der Haushalte (Binnenkonjunktur), Rechtssicherheit und vielen Innovationen sowie nicht zuletzt einem hohen Empathiefaktor bei den Jobs und der Kultur (man denke hier nur an die Bekanntheit vieler Marken oder den Erfolg von Hollywoodproduktionen). Der russische Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine sei außerdem kein Thema im deutschen Wahlkampf 2021 gewesen und Deutschland habe nach der Annexion der Krim und dem Kriegsbeginn in der Ostukraine seine Abhängigkeit beim Gas sogar noch weiter gesteigert.
Als Herausforderungen und Lösungsansätze mahnte er dazu, das Bewusstsein für Risiken zu schärfen und sich nicht erpressen zu lassen, denn Deutschland könne selbst das Entkoppeln von weltwirtschaftlichen Prozessen (De-Coupling) überleben und auch umfassende Sanktionen überstehen. In den Gegensätzen zwischen Demokratie und Autokratien schlussfolgerte er, dass offene Gesellschaften mit ihren Covid-Strategien erfolgreicher gewesen seien. Die Demokratien hätten den Systemvorteil, dass sie zwar nicht weniger Fehler machen würden, diese jedoch korrigieren könnten. Auch solle man nicht versuchen, China in Drittländern zu überbieten, da sich faire Kooperation langfristig durchsetze. Letztlich sei Deutschland nicht äquidistant oder neutral zwischen China und den USA verortet. Emanzipation sei nötig, aber nicht gegen die USA, sondern in Form einer Stärkung Europas im Bündnis mit den USA, ohne die Europa führungslos sei: „Die EU wurde auf Sonnenschein gebaut, doch man hat den Eindruck, dass man die Regenschirme vergessen hat.“
In der anschließenden Diskussion ging Herr von Marschall auf die zahlreichen Fragen der Zuhörer ein. So antwortete er auf einen Beitrag, ob die Aussage, dass Deutschland in manchen Handlungen eine „Schnecke“ sei, nicht Wasser auf die Mühlen der Extremisten sei: Deutschland solle im europäischen Kontext kompromissbereiter sein und eine gewisse Geschmeidigkeit haben, um nicht nur in Sachfragen Mehrheitskoalitionen entstehen zu lassen: „Wir haben oft gute Ideen, aber nicht die praktikabelste Lösung“. Dabei solle man verstärkt auf andere Länder schauen und gute Ideen von diesen aufgreifen. Der Erfolg der AfD sei für ihn ein Zeichen, dass „was schiefläuft“. Dabei glaube er nicht, dass AfD-Wähler per se ein anderes Weltbild hätten oder dass die Partei Lösungen für die aktuellen Probleme habe. Das Migrationsproblem treibe die Stimmung für die AfD. Es gebe Anzeichen dafür, dass aus Sicht einer breiteren Gruppe der Bevölkerung Deutschland aktuell die anstehenden Probleme nicht gelöst bekomme. Am Ende der Veranstaltung waren sich die Besucher einig: ein spannender Vortrag mit einem sehr kompetenten Referenten, der viele Themen an diesem Abend kritisch beleuchtete und zahlreiche Denkanstöße mit auf den Weg gab.